Lust

Bin ich wirklich hungrig oder habe ich bloss Appetit? Einfach Lust auf etwas Kleines, auf Süsses, einen Snack? Der Kühlschrank ist voll und wir geniessen gern. Wäre es anders, gäbe es die Menschheit wohl nicht mehr.

Für unsere Vorfahren war es überlebensnotwendig, sich den Bauch vollzustopfen, wenn sich Gelegenheit bot. Das wird uns heute zum Verhängnis: Oft macht uns nur schon der Anblick oder der Duft von Speisen schwach.

Viele Menschen essen nicht so, wie es ihnen guttäte. Sie lassen sich von einem übergrossen Nahrungsangebot zum Essen verleiten. Auch Gewohnheiten oder Werbung erschweren es, Hunger, Sattheit, Lust und Überdruss zu unterscheiden.

Lust © Paula Troxler

Das Auge isst mit

Allein der Anblick von leckeren Speisen löst Appetit aus. Für unsere Vorfahren war es lebenswichtig, in der Natur Essbares aufzuspüren. Seit Jahrtausenden sind die Augen darin geschult, Energiequellen zu erkennen. Schon wenn wir Essen betrachten, bereitet sich der Körper auf die Nahrungsaufnahme vor: Im Blut nimmt das Ghrelin zu, jenes Hormon, das den Appetit anregt. Fotos von Esswaren sind heute allgegenwärtig – das Internet quillt über davon. Schön arrangierte Speisen – «Foodporn» – füllen die Kanäle der sozialen Medien. Noch ist nicht genug erforscht, wie sich solch verlockende Bilder auf unseren Konsum auswirken.

Je grösser die Tüte, desto mehr Appetit

Die Grösse der Portion beeinflusst, wie viel wir essen: Kinobesuchende assen 45,3 Prozent mehr Popcorn, wenn sie es in einem grösseren Behälter bekamen. Selbst wenn sie das Popcorn nicht mochten, assen sie aus grossen Tüten 33,6 Prozent mehr als bei der üblichen Behältergrösse. Bei der Essensmenge verlassen wir uns oft stärker auf sichtbare Portionsgrössen als auf Körpersignale. Auf diese Weise müssen wir nicht nach jedem Bissen prüfen, ob wir schon satt sind. Es ist einfacher für uns, den Teller leer zu essen.

Lust auf Salziges?

Salz und Kalzium sind die einzigen Mikronährstoffe, auf die wir Appetit haben. Sie sind unentbehrlich für uns: Wir brauchen Salz und Kalzium für die Verdauung, für ein funktionierendes Nervensystem und für den Knochenaufbau. Obschon wir auch andere Mikronährstoffe benötigen, empfinden wir lediglich Lust auf Salz und Kalzium. Das liegt daran, dass diese Stoffe über Jahrtausende schwer zu finden waren. Anders als Vitamine und Mineralstoffe enthalten nur wenige Nahrungsmittel Salz und Kalzium. Die Menschen wurden empfindsam in Bezug auf ihren Geschmack, um sie in der Natur aufzuspüren.

Prinzip Abwechslung

Wir Menschen sind Allesfresser. Verdorbene Nahrung erkennen wir am Geruch und am Geschmack. Unsere Sinne helfen auch, energiereiche Lebensmittel auszumachen. Über Jahrtausende haben wir gelernt, Süsses zu lieben und Bitteres zu hassen: Das eine liefert viel Energie, dass andere ist oft giftig. Versuch und Irrtum leiten die Menschen in ihrer Ernährung: Je vielfältiger wir essen, desto grösser ist die Chance, dass der Körper alle nötigen Vitamine und Mineralstoffe bekommt. Wir kennen alle den «Dessert-Effekt»: Selbst wer nach einem grossen Essen satt ist, findet meist noch Platz für etwas Süsses. Diese kulinarische Neugier regte unsere Vorfahren dazu an, verschiedenste Nährstoffquellen zu probieren. Das half, eine ausgewogene Versorgung zu erreichen. Unsere Neugier findet in Zeiten des Überangebots ihre Kehrseite im Überessen.

Die Kultur isst mit

Was wir gern essen, ist nicht einfach das, was wir mögen. Wir haben uns daran gewöhnt, das zu mögen, was wir essen. Unsere Vorlieben sind ebenso wie unsere Abneigungen zu einem grossen Teil kulturell geprägt und wandeln sich von einer Generation zur anderen. Für unsere Grosseltern waren etwa Kalbsherz oder Ochsenfüsse ein Leckerbissen. Die Einstellung gegenüber bestimmten Speisen kann sich im Lauf des Lebens verändern: Ein Kind isst liebend gern Kartoffelstock mit Würstchen, bis es ein Verdorbenes erwischt und erbrechen muss. Der Ekel bleibt jahrelang – leider nicht nur vor Würstchen, sondern auch vor Kartoffelstock, dem letzten Geschmackseindruck vor der Übelkeit. Eine solche erlernte Abneigung bewahrt uns davor, Abträgliches zu essen.

Kapitel Lust © M. Stollenwerk